Nochmalige Fortsetzung: Ukraine-Krieg und Welthunger
von 19:15 Uhr bis 21:45 Uhr
Kleiner Saal, Nachbarschaftshaus Gostenhof, Adam-Klein-Straße 6, Nürnberg
„Unser Welternährungssystem“ – schon wieder und immer noch kaputt
Der Welthunger hat es wieder einmal für ein paar Tage lang auf die vorderen Seiten der Zeitungen geschafft und ist erneut prominenter Gegenstand der Weltpolitik geworden. Der Anlass: der Krieg zwischen Russland und der Ukraine führt wegen der russischen Blockade ukrainischer Hafenstädte – v.a. von Odessa – dazu, dass ukrainischer Export von Weizen und anderer Nahrungsmittel fast vollständig zum Erliegen kommt; als Reaktion auf die Inflationsrate des Rubels infolge des westlichen Sanktionsregimes und um die heimische Versorgungssicherheit mit Weizen sicherzustellen verhängt Russland einen Exportstopp für Weizen. Die Lieferungen von zwei der größten Weizenexporteuren der Welt entfallen für den Weltagrarmarkt; aufgrund der darauf folgenden exorbitanten Steigerung des Weizenpreises ist völlig klar: Um die 800 Mio. Menschen v.a. in Afrika und Nahost sind von Hunger bedroht.
Die moralisch-politische Einordnung dieses Sachverhalts durch die verantwortlichen Politiker und die Öffentlichkeit geschieht in Kriegszeiten. Deshalb sind diesmal „einfache Antworten“ für den Welthunger gefragt: Die eine Kriegspartei in persona Putin ist schuld daran.
Russland wird zur Last gelegt „einen Kornkrieg angezettelt und eine weltweite Ernährungskrise weiter angefacht [zu haben], und zwar zu einer Zeit, in der bereits Millionen von Hunger bedroht sind“ (Baerbock 18.05.22). Ohne dass irgendjemandem dabei der geringste Widerspruch auffällt, wird der russischen Führung ebenfalls vorgeworfen, dass „das Versäumnis, die Häfen in der Region von Odessa zu öffnen, eine Kriegserklärung gegen die globale Ernährungssicherheit“ ist. (David Beasley, Exekutivdirektor des World Food Program, 19.05.22). Wenn Putin einerseits beschuldigt wird, eine schon längst existierende Hungerkrise anzufachen, er anderseits ebenfalls daran schuld sein soll, die globale Ernährungssicherheit kaputt zu machen, dann ist das ein Hinweis darauf, dass das „Welternährungssystem“ ein Euphemismus für ein Ensemble an weltweiten Beziehungen ist, deren Inhalt und Zweck jedenfalls nicht in der Ernährung der Welt besteht. Und es ist ja auch bekannt: das „Problem“ Hunger gibt es seit Jahr und Tag, wird von den ansässigen Staaten oft gar nicht, vom WFP teilweise, teilweise auch nicht betreut, jedenfalls hat man sich an diesen Sachverhalt hierzulande gewöhnt und begleitet ihn mit regelmäßigen Aufrufen, die Ernährung im globalen Süden doch endlich einmal nachhaltig zu gestalten. Hunger als Dauerzustand gehört offenbar zum Funktionieren des „Welternährungssystems“ einfach dazu.
Wieso das denn?
Einige Zitate zur Veranstaltung:
„Wir haben keine Probleme mit der Menge, das wirkliche Problem sind der Preis und die offensichtlichen Phänomene der Spekulation“. (Italiens Agrarminister Patuanelli, corriere.it, 28.5.22)
„Die Frage ist nur: Was ist der richtige Preis für einen Sack Weizen? (…) Aber dieser Preis richtet sich eben auch danach, wie teuer Weizen zum Beispiel gerade an der wichtigen Chicagoer Rohstoffbörse Chicago Mercantile Exchange ist (…). Hier werden Verträge über Kauf und Verkauf von Weizen und anderen Agrarrohstoffen gehandelt, die erst in der Zukunft fällig werden, in drei Monaten oder etwa auch in einem Jahr. Mit sogenannten Futures und Optionen kann man auf steigende oder fallende Preise wetten, je nachdem, wie man die Zukunft einschätzt. Diese Wette ist ein Risiko. Sie ist aber ebenso eine Absicherung. Das Prinzip ist simpel: Wer sich heute verpflichtet, im Dezember 2022 Weizen zu einem bestimmten Preis zu verkaufen, hofft, dass der aktuelle Preis bis dahin niedriger ist. Wer ihn im Dezember abnimmt, hofft wiederum, dass der Preis bis dahin höher ist, weil er das Getreide theoretisch teuer weiterverkaufen kann. Bauern haben noch gar nicht ausgesät, schließen aber bereits mit Verarbeitern Verträge, zu welchem Preis sie ihren Weizen nach der Ernte verkaufen. (…) Termingeschäfte haben einen riesigen Vorteil: sie schaffen eine gewisse Sicherheit in einem unsicheren Geschäft. (…) Idealerweise entsteht ein Preis, der auf begründeten Vorhersagen basiert, aber es läuft nicht immer ideal. Gerade in Krisen kommt es vor, dass viele einem Trend folgen, zum Beispiel auf steigende Preise zu setzen. Dann entsteht eine Bewegung, die einen Rohstoff wie Weizen enorm verteuern kann.“ (Der Weizenkrieg, SZ 25./26.06.22)
„Für Deutschland und Europa bedeutet das: Die Menschen müssen mehr Geld ausgeben. Für Gemüse wie etwa Gurken und Tomaten oder für Speiseöle fast ein Drittel mehr. Der Discounter Aldi erhöhte zuletzt zweimal die Preise, betroffen waren Hunderte Produkte. Das kann für einkommensschwache Haushalte schwierig werden. Ein Engpass der Versorgung ist allerdings nicht zu befürchten. ‚Wir als Gesellschaft werden uns das immer leisten können‘, sagt Achim Spiller, Professor für Agrar- und Lebensmittelmarketing an der Universität Göttingen und Vorsitzender des Wissenschaftlichen Beirats für Agrarpolitik im Bundeslandwirtschaftsministeriums. ‚Das große Problem werden die Länder haben, die auf den Weltmärkten den Kürzeren ziehen, weil sie das Geld nicht haben.‘“ (Krieg in der Ukraine – Weizen als Waffe, SZ 29.4.22)
„Indien hat mit sofortiger Wirkung die Ausfuhr von Weizen verboten. Grund sei die unsichere Ernährungslage im Land. In einer von der Regierung veröffentlichten Bekanntmachung hieß es, der sprunghafte Anstieg der Weltmarktpreise für Weizen bedrohe die Ernährungssicherheit Indiens und benachbarter Länder. Mit dem Export sollten Preissteigerungen im eigenen Land eingedämmt werden. Indien ist der zweitgrößte Weizenproduzent der Welt, verbraucht aber den größten Teil der eigenen Ernte. Käufer weltweit setzten bei der Weizenversorgung auf Indien, nachdem die Ausfuhren aus der Schwarzmeerregion seit dem Einmarsch Russlands in die Ukraine Ende Februar stark zurückgegangen waren.“ („Ich sehe das sehr kritisch“, tagesschau.de, 14.5.22)
„Diese Abhängigkeit lässt sich kaum auflösen, denn kurzfristig können die Ernährungssysteme nicht umgestellt werden: Jede Aussaat und Ernte braucht ihre Zeit“, erklärt der Deutschland-Chef des Welternährungsprogramms der Vereinten Nationen, Martin Frick. Viele Entwicklungsländer fokussierten ihre Landwirtschaft auf Exportgüter, zum Beispiel Baumwolle. „Mittel- und langfristig müsste ein stärkerer Fokus auf Ernährungssicherheit gelegt werden“, sagt Frick. … Expert*innen sehen zudem große Chancen darin, die Ernährung breiter aufzustellen – weg vom Weizen, zurück zu traditioneller Nahrung wie Hirse, Maniok, Süßkartoffeln. Die Länder könnten so unabhängiger von teuren Exportgütern werden.“ (Wie der Ukraine-Krieg Hungersnöte verschärft, zdf.de, 24.5.22)
„Viele dieser Volkswirtschaften waren schon weit vor dem Eintritt der Nahrungsmittelkrise in einem schlechten Zustand. Quer durch Sub-Sahara Afrika bleibt die Produktion erheblich unter dem Niveau, dass sie erreichten hätten, hätten vorpandemische Tendenzen in diesen Ländern weiterhin gegolten. Die Schuldenlast von mehr als der Hälfte der einkommensschwachen Länder der Region werden entweder als unhaltbar beurteilt, oder werden es bald sein. Nach dem Urteil des IWF sind Regierungen in solcher Lage schlecht dafür aufgestellt, ihren Bürgern dabei zu helfen einen Nahrungsmittelpreisschock zu überstehen.” (A world grain shortage puts tens of millions at risk, Economist, 19.5.22)
„Reaktionen auf höhere Nahrungsmittelpreise in reichen Ländern verschlechtern die Lage nochmehr. Nahrungsmittelpreise machen ungefähr 1.3 Prozenz der 8.3% Inflationsrate Amerikas aus und ungefähr 1.0 Prozentpunkte der 7.4% Inflationsrate in der Eurozone. Sie sind also einer der treibenden Faktoren für eine agressivere Geldpolitik. Die höheren Zinssätze, die sich nun einstellen, ziehen den Wert der Währungen nach unten und verschärfen die finanzielle Lage in Schwellenländern. Fallender Wert der Währungen verteuern Nahrungsmittelimporte erst recht.“ (A world grain …, Economist, 19.5.22)
Lesetipp:
Zur Subsumtion des Welthungers unter den Ukraine-Krieg gibt es einen Artikel in der am 24.6. erscheinenden Nummer 2-22 der politischen Vierteljahreszeitschrift GegenStandpunkt: „Hunger und Krieg: Der Kampf um die ‚europäische Kornkammer‘“