Fortsetzung: Die „wehrhafte Demokratie“ vs. „Putins Trolle“:

Tue, 26. July 2022
von 19:15 Uhr bis 21:45 Uhr
Online-Diskussionsveranstaltung per Discord, der Link zur Teilnahme (nach Betätigung des Link im Register "Voice Channels" auf "General" klicken):

Die Meinungsfreiheit als Waffe

Das gründliche Vorgehen von Putins Propagandamaschine in Russland ist hierzulande längst bestens dokumentiert; über die neuesten Lügengebäude und Repressionsmaßnahmen wird man auch stets und umfassend auf dem Laufenden gehalten – auch über die tragische Wirkung der Repression, dass die freie Rede, die ungehinderte Zirkulation von Informationen und Meinungen ihre störende bis umstürzlerische Potenz ausgerechnet dort nicht entfalten können, wo es sie am dringendsten bräuchte. Aber wenn es bloß das wäre! Den „Informationskrieg“ führt Putin nämlich weit über die russischen Grenzen hinaus; mit seinen Staatssendern, Trollen und Bots gefährdet er die westlichen Gesellschaften in einer Weise, wie das offene Meinen es bei ihm selbst ja gar nicht erst darf:

„‚Es ist Krieg‘, sagt Jessikka Aro [finnische Journalistin und Autorin von ‚Putins Armee der Trolle‘]. Und nicht erst seit drei Wochen, seit Jahren schon. Wladimir Putins Truppen sind ausgezogen, aber nicht nur in die Ukraine. ‚Sie zersetzen Demokratien überall auf der Welt, sind eine Bedrohung für Meinungsfreiheit und nationale Sicherheit in vielen Staaten.‘ Sie kämpfen dabei nicht nur mit Panzern und Granaten. Sie führen ihre Schlachten auch unblutig, unsichtbar. Mitten unter uns… Was Aro beunruhigt, mehr noch als die Schamlosigkeit der Propaganda: Im Netz gibt es Zuspruch, tausendfach, millionenfach, ohrenbetäubend. Auch in Deutschland, unter Rechts­­extremen etwa, und unter den ‚Querdenkern‘. ‚Ich sehe jeden Tag, wie auch ganz gewöhnliche Bürger empfänglich sind.‘“ (SZ, 16.3.22)

Es bleibt nicht beim Alarmschlagen der europäischen Öffentlichkeit. Die regierungsamtlichen und kommerziellen Wächter des freiheitlichen Meinens kommen mit ihrer Gegenwehr nach und nach in die Gänge:

Langsam, ganz langsam wacht Europa auf. Das Europäische Parlament hat am vergangenen Mittwoch erst eine Resolution verabschiedet, die sich vor allem russische Einflussoperationen und Desinformation vorknöpft… Die Dinge überschlagen sich gerade. Die EU hat RT, Sputnik und deren Töchtern die Sendelizenzen entzogen. Facebook hat gerade mehrere Fake-Accounts von angeblichen Ukrainern gesperrt, die eine ‚Neonazi-Diktatur‘ in ihrem Land beklagen würden. Personen wie ‚Wladimir Bondarenko‘ seien fiktiv, ihre Profilbilder seien von künstlicher Intelligenz kreiert worden. Google will in Europa alle zu RT und Sputnik gehörenden Kanäle auf Youtube verbieten. ‚Endlich‘, sagt Jessikka Aro dazu. ‚Wenigstens das ist ein erster echter Fortschritt.‘“ (Ebd.)

Die EU setzt das Wirken der russischen Medien auf eine Stufe mit Bin Laden und Schlimmerem und setzt die freiheitliche Gegenmacht des Rechtsstaats dagegen ein: „‚Dies ist nun illegaler Inhalt, der wie anderer illegaler Inhalt, Kinderporno­­graphie und Terrorismus, behandelt wird‘, sagte der Beamte.“ (FAZ, 2.3.22)

Das ist schon aufschlussreich. Wenn die Sphäre der Information und der privaten Meinungsbildung als eine Frage der nationalen Sicherheit behandelt wird; wenn eine feindlich gesinnte Einmischung in dieser Sphäre als ein Angriff definiert wird, der nicht nur die unbescholtenen „hearts and minds“ europäischer Bürger, sondern ihre Staatsgewalten selbst trifft – dann wird deutlich, dass das private Meinen der Bürger als Instrument der Staatsgewalt zu funktionieren hat und deswegen zentrales Sorgeobjekt der Autoritäten ist, die die Politik betreiben und das freie Meinen über sie organisieren.

Weitere Zitate:

Seit 2014 ist nicht nur in Redaktionsstuben und bei Russland-Kennern glasklar, dass der Kreml durch Internet-Trolle und Propagandasender wie Russia Today (RT) und Sputnik seine Propaganda-Lügen in der Welt verbreitet, links- wie rechtsextreme Parteien in Europa instrumentalisiert, sich mit viel Geld wohlmeinende (Ex-)Politiker sowie Parteien im Westen hält. Dass Putin systematisch daran arbeitet, die europäischen Staaten und Gesellschaften zu spalten, die Werte demokratischer Rechtsstaaten zu diskreditieren … – all das war bekannt und ist dokumentiert. Unternommen wurde dagegen nichts.“ (Europa muss den Informationskrieg gegen Russland gewinnen, die-tagespost.de, 9.3.22)

In Deutschland ist es verboten, bestimmte schwere Gewalttaten öffentlich zu ‚billigen‘. So steht es im Paragrafen 140 des Strafgesetzbuchs. Zu diesen Gewalttaten gehört auch das Führen eines Angriffskriegs. Russlands Invasion der Ukraine ist ein Angriffskrieg. So hat das zwar bislang noch kein deutsches Gericht festgestellt. Aber immerhin hat der Internationale Gerichtshof in Den Haag schon – verbindlich – entschieden, dass Russlands Armee grundlos ‚aggressiv‘ in die Ukraine eingefallen sei. Unter Staatsschützern etwa in München, Frankfurt oder Hannover hat das hektische Prüfungen ausgelöst. Denn womöglich heißt das: Man kann die Diskussion über diesen Krieg nicht so frei laufen lassen wie die Diskussion über andere, weniger eindeutig verbrecherische Kriege… In Frankfurt haben die Ermittler der Zentralstelle Internetkriminalität (ZIT) bei der Generalstaatsanwaltschaft etwa zehn solcher Parolen gesammelt. Diese neue Form von Hate Speech, das Anfeuern eines Angriffskrieges, wird auch aus der Zivilgesellschaft angezeigt, etwa über die Meldeplattform ‚Hessen gegen Hetze‘. Klar ist für die Juristen aber: Es kommt immer auf den Kontext an. Die Meinungsfreiheit ist ein hohes Gut. Bei Facebook kommentierte ein Nutzer am 11. März eine Rede des russischen Außenministers mit den Worten: Viele Deutsche hätten ‚nicht im Ansatz Kenntnis, um was es wirklich geht und warum Russland richtigerweise so handelt‘. Aber verstand dieser Nutzer, dass es ein Angriffskrieg ist? Billigte er dieses Menschheitsverbrechen vorsätzlich? Ob die Strafgerichte zumindest bei eindeutigen Fällen mitziehen und Fälle ahnden, ist offen. Anklagen gibt es – noch – nicht.“ (SZ, 29.3.22) „Es gibt Meinungsbekundungen, die schwer zu ertragen sind. Die Autokorsos, die mit russischen Flaggen geschmückt durch deutsche Städte rollen, gehören dazu. Auch wenn viele Teilnehmer anderes sagen: Bei diesen Demonstrationen geht es im Kern darum, einen Angriffskrieg zu relativieren oder gar zu rechtfertigen. Für Ukrainer, die in Deutschland Zuflucht vor Putins Bomben gefunden haben, muss dies wie ein Schlag ins Gesicht wirken. Trotzdem schützt unsere Verfassung auch Dummheiten: Meinungsfreiheit gilt nicht nur für mehrheitsfähige Ansichten, selbst in Kriegszeiten… Die Versammlungsfreiheit ist in einer Demokratie ein hohes Gut, auch wenn die Botschaft der Demonstrierenden noch so konträr zur eigenen Meinung sein mag. Verbieten lassen sich die als Friedensdemos deklarierten Autokorsos so einfach nicht. Und das wäre auch ein Fehler.“ (BZ, 12.4.22)

Beckham als Warfluencer zeigt die neue Dimension der sozialen Medien im Social-Media-Krieg neben dem dinglichen Krieg. Dadurch bekamen Millionen Menschen Einblick in die katastrophale Situation vor Ort in der ukrainischen Klinik, die davon sonst vielleicht wenig erfahren hätten. Die Leute in der Ukraine selbst, die am schlimmsten betroffen sind vom russischen Überfall, können in Beckhams Aktion eine Stärkung der Aufmerksamkeit für ihre Sache erkennen. Aufmerksamkeit ist für Konflikte auf mehrere Arten essenziell. Vor allem, weil die dadurch geführten Debatten in liberalen Demokratien tatsächlich eine Wirkung entfalten. Ohne die bundesweite, lautstarke Empörung über die anfängliche Zurückhaltung der Bundesregierung in Sachen Waffenlieferungen an die Ukraine wären die zunächst zugesagten 5000 Helme vermutlich noch immer die einzige Hilfe Deutschlands. Beckhams Insta-Übergabe ist der prominente Truppenbesuch des 21. Jahrhunderts.“ (Der Spiegel, 23.3.22)

Die Kraft der sozialen Medien liegt darin, zwar eine Inszenierung anzubieten – aber trotzdem einen sehr wahrhaftigen und unmittelbaren Blick in die Realität anderer Leute zu erlauben… Warfluencer sind – das ist meine persönliche Sicht – sogar notwendig, um die Monstrosität des Krieges denjenigen nahezubringen, die über jeden anderen Aspekt ihres Lebens auch in sozialen Medien informiert werden. Vielleicht sind TikTok-Videos in ihrem eingeübten Zwang zu Kürze und beiläufiger Prägnanz und von echten Personen als Absendern sogar die bessere Art, einen Krieg zu fühlen. Oder besser: dem Publikum wenigstens eine entfernte Ahnung vom Gefühl des ­­Krieges zu vermitteln. Die Bilder allein kennt man hunderttausendfach, aus Videospielen und Filmen. Aber das über soziale Medien dargestellte, persönliche Erleben des Krieges von einer Person, die man zuvor schon verfolgt hat (oder hätte verfolgen können), entfaltet eine ganz andere Wucht.“ (Der Spiegel, 23.3.22)

 

Lesetipp:

„Putins Trolle und Europas Gegenwehr: Die Meinungsfreiheit als Waffe“ in: GegenStandpunkt 2-22 und abrufbar auf: https://de.gegenstandpunkt.com/artikel/meinungsfreiheit-waffe