Die französische Rentenreform: Verarmung der Massen im Dienste des Allgemeinwohls

Thu, 21. September 2023
von 19:30 Uhr bis 21:45 Uhr
Kleiner Saal, Nachbarschaftshaus Gostenhof, Adam-Klein-Straße 6, 90429 Nürnberg

Jetzt ist es vollbracht: die „Mutter aller Reformen“ (Macron) ist durchgeboxt, der Beschluss der französischen Regierung, dass Lohnabhängige in Zukunft für ihre Rente länger arbeiten müssen und Rentenkürzungen hinzunehmen haben, hat Gesetzeskraft. Macron hat dabei immer darauf bestanden, dass gerade die Betroffenen für diesen umfassenden Angriff auf ihren Lebensstandard der Regierung dankbar sein dürfen, denn dieser sei nötig im Dienste ihrer „Kaufkraft“. Was ist die Logik und harte Grundlage dieser unverschämten Gleichsetzung?

Zitatesammlung:

Zwischen den Umfragen, der Kurzfristigkeit und dem Allgemeininteresse des Landes entscheide ich mich für Letzteres. Und wenn man die Unpopularität auf sich nehmen muss, werde ich sie auf mich nehmen.“ (Macron in einem Fernsehinterview, 22.3.23)

Um die Produkte zu einem fairen Preis zu kaufen und sie in Europa herzustellen, muss man wettbewerbsfähig sein, d. h. man muss Reformen durchführen, für Innovationen sorgen und über angemessene Arbeitsgesetze verfügen, die die Menschen und ihre Rechte schützen, aber auch genügend Flexibilität zulassen, um auf einem offenen Markt wettbewerbsfähig zu sein. Ein solches Gleichgewicht muss gefunden werden. Um ehrlich zu sein, hatte Frankreich dieses Gleichgewicht vor fünf oder sechs Jahren verloren. Dank der Reformen, die wir durchgeführt haben, ist unsere Arbeitslosenquote um mehr als zwei Prozentpunkte gesunken. Derzeit führen wir eine Rentenreform durch. Ich bin mir nicht sicher, ob alle gut informiert sind, weil das Thema ziemlich komplex ist, aber wir haben Sonderregelungen für bestimmte Kategorien. Sie sind nicht gerechtfertigt und müssen abgeschafft werden, denn wir sind verschuldet und haben ein viel höheres Defizit als die Niederlande. Und ich bezweifle, dass die niederländischen Steuerzahler akzeptieren werden, dass wir langfristig ein französisches Sozialmodell mit dem Geld der europäischen Steuerzahler finanzieren. Ich muss also in unserem Land handeln. Das Rentenalter muss daher von 62 auf 64 Jahre angehoben werden.“ (Rede Macrons in Den Haag, 11.4.23)

Es geht um die Verteidigung eines der Fundamente unseres Sozialmodells. Es bedeutet, die Solidarität zwischen den Generationen zu leben.
Diese Solidarität beruht jedoch auf einem Gleichgewicht: Die Beiträge der Erwerbstätigen müssen die Renten der Rentner finanzieren.
Zu sagen, dass dieses Gleichgewicht nicht mehr gewährleistet ist, ist keine Haltung. Es ist eine Feststellung. Eine Feststellung, die von all jenen getroffen wurde, die sich mit den Renten befasst haben.
Denn ohne auf komplexe Studien und Hypothesen einzugehen, gibt es eine Realität, die jeder kennt: Die Zahl derjenigen, die Rentenbeiträge zahlen, nimmt im Vergleich zur Zahl der Rentner ab.
Das ist eine Tatsache und kein politisches Argument. …
Das Ungleichgewicht zwischen der Zahl der Erwerbstätigen und der Zahl der Rentner wird zu Defiziten führen, die Jahr für Jahr größer werden.
Es wäre unverantwortlich, diese Defizite weiter anwachsen zu lassen.
Sie durch demagogische Maßnahmen wie die Herabsetzung des Renteneintrittsalters noch weiter zu verschärfen, wäre noch schlimmer.
Dies würde unweigerlich zu massiven Steuererhöhungen, drastischen Rentenkürzungen und sogar zur Gefährdung unseres Rentensystems führen.“ (Premierministerin Élisabeth Borne, Pressekonferenz zur Rentenreform. 10.1.23)

Einige behaupten, dass diese Summe [von prognostizierten 13,5 Milliarden Euro Defizit der Rentenkassen im Jahr 2030] unerheblich sei. Doch für einen Staat, der drei Billionen Euro Schulden hat, ist kein Defizit unerheblich.“ (Finanzminister Le Maire bei der Verkündung der Rentenreform, 10.1.23)

Die Institutionen der sozialen Sicherheit werden sich an der Eindämmung der Ausgabenentwicklung beteiligen, dies wird vor allem durch die Rentenreform, die Arbeitslosenversicherungsreform zur vermehrten Vollbeschäftigung und die Eindämmung der Gesundheitskosten ermöglicht… Die Eindämmung der Ausgaben muss von einer Verstärkung der Ausgabenqualität begleitet werden, vor allem durch die Finanzierung unerlässlicher Investitionen in die ökologische und digitale Transformation, zum Erreichen der Vollbeschäftigung und um die Wettbewerbsfähigkeit unserer Firmen zu sichern.“ (Entwurf zum Haushaltsgesetz für 2023, assemblee-nationale.fr)

Ab dem 1. September wird das gesetzliche Renteneintrittsalter schrittweise um drei Monate pro Jahr angehoben, bis es 2030 64 Jahre erreicht. … Gleichzeitig werden wir nicht weiter gehen als die 43 Beitragsjahre, die in der Touraine-Reform vorgesehen sind, um mit dem vollen Rentenanspruch in Rente zu gehen. Wir werden dieses Ziel jedoch schneller erreichen, indem wir zu einem Rhythmus von einem Quartal pro Jahr übergehen. Im Jahr 2027 werden wir bei 43 Jahren sein.
Schließlich werden wir das Alter, in dem Menschen unabhängig von ihrer Beitragsdauer ohne Abschläge in Rente gehen können, bei 67 Jahren belassen. Dies ist von entscheidender Bedeutung für diejenigen, die eine zerklüftete oder unvollständige Karriere hatten – und hier denke ich besonders an Frauen. …
Mehr zu arbeiten wird den künftigen Rentnern bessere Renten ermöglichen.“ (Borne, a.a.O.)

Am 10. Dezember 2022 stellte der Staatschef [Macron] einmal mehr den Korporatismus als ‚die französische Krankheit, die Sache, die sich nach der französischen Revolution 1789 am schnellsten wiederhergestellt hat‘, heraus… ‚Das ist mein wichtigster politischer Kampf‘, erklärt er als scharfer Kritiker der ‚Kaperung des Allgemeininteresses durch Leute zugunsten ihrer Privatinteressen‘.“ (lemonde.fr, 10.2.23)

Lesetipp: Rentenreform und Protest dagegen in Frankreich. In: GegenStandpunkt 2-23, erhältlich im Buchhandel und beim Gegenstandpunktverlag.