Fortsetzung: Das Bürgergeld – „Jahrhundertreform“ für den staatlich betreuten Pauperismus

Tue, 08. August 2023
von 19:15 Uhr bis 21:45 Uhr
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Knapp zwanzig Jahre nach Einführung von „Hartz IV“ wird der deutsche Sozial­staat reformiert. Und zwar nicht nur ein bisschen, wie die Macher der Reform un­ermüdlich betonen. Es handele sich um nichts weniger als eine „Jahrhundertre­form“ (Scholz). Dieser Maßstab zur Beurteilung der Refor­mierung des Arbeitslo­sengeld II zum Bürgergeld wird prompt aufgenom­men und daran die Reform bla­miert: „Keine Reform, sondern ein Reförm­chen“, „Hartz IV bleibt Hartz IV“. Nur, diese Art von Kritik verstellt den Blick darauf, was da eigentlich reformiert wurde und warum? Was hat denn die Einführung von Hartz IV positiv geleistet, und zwar was für wel­che Subjekte, und inwiefern knüpft die Reform an dieser Leistung an? Wenn schon Sozialverbände feststellen, den Bedürfnissen der auf Grund­sicherung angewiesenen Menschen wurde wieder nicht Rechnung getra­gen, fragt sich doch, welchen Be­dürfnissen dann? Welche Unzufriedenheit hatten denn die regierenden Sozial­politiker mit ihrer Verwaltung der von ihnen betreuten Armut, die offenbar zu dem von ihnen regierten Land da­zugehört?

Darüber wollen wir diskutieren und dabei auch die Vorstellung kritisieren, es habe an der Unnachgiebigkeit der Union gelegen, dass aus der Bürgergeldreform der Ampel nichts wirklich „Systemverän­derndes“ (Heil) geworden ist. Im­merhin ha­ben die Ände­rungswünsche der Opposition, auf deren Zustim­mung im Bundesrat die Regierung angewiesen war, bei der ein offe­nes Ohr gefunden, wurden also von ihr als durch­aus kompatibel mit dem Zweck der Reform erachtet.

Zitatesammlung:

Nun ist Hartz IV bald Geschichte. War es letztlich denn gut für Deutschland? … Heil: Wir hatten damals fünf Millionen Arbeitslose, die Lage war dramatisch. Es war richtig, damals eine große Reform anzugehen, die den Abbau der Arbeitslosigkeit zum Ziel hatte, und den damaligen Zustand nicht so zu lassen. Heute passt das System nicht mehr in die Zeit. Wir haben eine ganz andere Lage am Arbeitsmarkt – wir haben deutlich weniger Arbeitslose, dafür einen chronischen Mangel an Arbeits- und Fachkräften –, sodass wir andere Instrumente benötigen. Zudem war es Zeit, das System zu modernisieren und eine neue Tonalität einzuführen.“ (SZ-Interview mit Bundesminister für Arbeit und Soziales Hubertus Heil, 24.11.22)

Der Arbeitsmarkt ist insgesamt in einer guten Verfassung. Die Zahlen zeigen aber auch, dass Langzeitarbeitslose von dieser positiven Entwicklung oft nicht profitieren können.“ (Gesetzentwurf zum Bürgergeld) „Ja, wir haben immer noch einen verfestigten Sockel von Langzeitarbeitslosigkeit. Aber wenn man sich anschaut, woran das liegt, sieht man, dass zwei Drittel der langzeitarbeitslosen Menschen keine abgeschlossene Berufs­­ausbildung haben. Das bisherige System führt dazu, dass diese Menschen dann hin und wieder mal in Hilfstätigkeiten vermittelt werden, das Jobcenter sie aber oft nach einigen Monaten oder Jahren wiedersieht.“ (H. Heil im Bundestag, 13.10.22) „Das Bürgergeld schafft seit 1. Januar 2023 eine entscheidende Verbesserung: Der sogenannte Vermittlungsvorrang ist abgeschafft. Das bedeutet, dass Weiterbildung und Ausbildung nunmehr gegenüber einem Jobangebot wichtiger sind. Ziel ist, mit dann besserer Qualifizierung in eine dauerhafte und dann ggf. auch besser bezahlte Arbeit vermittelt zu werden. Somit kann Hilfebedürftigkeit und damit ein Bezug von Bürger­­geld nachhaltiger überwunden und der sogenannte ‚Drehtüreffekt‘ vermieden werden.“ (bmas.de, FAQ zum Bürgergeld)

Wer eine Weiterbildung mit Abschluss in Angriff nimmt, bekommt für erfolgreiche Zwischen- und Abschlussprüfungen eine Weiterbildungsprämie. Zusätzlich gibt es ein monatliches Weiterbildungsgeld in Höhe von 150 Euro. Für andere Maßnahmen, die für eine nachhaltige Integration besonders wichtig sind, gibt es einen monatlichen Bürgergeldbonus von 75 Euro. Das fördert das Durchhalten dieser wichtigen Qualifizierungswege, die auf der Strecke erstmal kurzfristig weniger Geld als etwa ein Aushilfsjob bringen, langfristig aber gegen Arbeitslosigkeit absichern und den Arbeitskräfte- und Fachkräftebedarf sichern.“ (Ebd.)

Das Beste ist, wenn man der Langzeitarbeitslosigkeit den Nachwuchs abgräbt. Wir haben 50 000 Schülerinnen und Schüler, die jedes Jahr die Schule verlassen ohne Abschluss. Und wir haben 1,3 Millionen Menschen im Alter zwischen 20 und 30 Jahren ohne Ausbildung. Deshalb müssen wir möglichst viele in Ausbildung bringen von Anfang an.“ (H. Heil im SZ-Interview, 24.11.22)

Das Bürgergeld kümmere sich speziell auch um diejenigen, „die als junge Menschen in Familien groß geworden sind, die nie Arbeit erlebt haben, die sich aufgerappelt haben, eine Ausbildung zu machen, die im alten Hartz-IV-System erlebt haben, dass ihre Ausbildungsvergütung noch gekürzt wurde.“ (H. Heil im Bundestag, 24.11.22)

Für Auszubildende, Schülerinnen und Schüler, Studierende und Bundesfreiwilligendienstleistende … gilt ab dem 1. Juli 2023 ein Freibetrag von 520 Euro, das heißt bis zu dieser Grenze wird das Einkommen nicht angerechnet.“ (bmas.de, FAQ zum Bürgergeld)

Wir haben in der Corona-Zeit erlebt, dass Menschen auf Grundsicherung angewiesen waren, die nie gedacht hätten, dass sie diese einmal brauchen. Viele Soloselbstständige zum Beispiel – die dachten immer: das ist was für andere Menschen, die in zweiter, dritter Generation in Sozialhilfe oder in Grundsicherung sind – haben erlebt: Wenn es darauf ankommt, muss der Staat ihnen zur Seite stehen. Sie haben ein System erlebt, das in vielen Bereichen sehr bürokratisch ist. Wir haben Gott sei Dank entschieden, dass sie nicht ihr ganzes Erspartes und ihre Altersvorsorge auflösen müssen. Denn für Soloselbstständige ist es beispielsweise so, dass nicht ganz zu unterscheiden ist, was Betriebsmittel sind und was Erspartes ist und zur persönlichen Lebensführung dient.“ (H. Heil im Bundesrat, 14.11.22)

Wer … zwischen 520 und 1.000 Euro verdient, kann ab dem 1. Juli 2023 mehr von seinem Einkommen behalten: Die Freibeträge in diesem Bereich werden von 20 auf 30 Prozent angehoben, das bedeutet bis zu 48 Euro mehr im Geldbeutel als bisher.“ (bmas.de, FAQ zum Bürgergeld)

Arbeit muss den Unterschied machen!“ „Mit dem Bürgergeld lohnt sich Arbeit mehr.“ (H. Heil im Bundestag, 24.11.22)

Der Soziale Arbeitsmarkt … wird dauerhaft etabliert: Jobcenter können sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse mit Menschen nach besonders langer Arbeitslo­­sigkeit für bis zu fünf Jahre fördern, um ihnen damit soziale Teilhabe zu ­­ermöglichen.“ (bmas.de, FAQ zum Bürgergeld)

Wir schreiben niemanden ab! Selbst nach vielen Jahren Langzeitarbeitslosigkeit werden wir den Menschen wieder eine Perspektive geben.“ (Jens Peick im Bundestag, 24.11.22)

Wir lösen ein System ab, das unter dem Namen Hartz IV zu einem Synonym für die Bedrohung der Menschen wurde, das die Menschen wahrgenommen haben als eins, das ihnen nicht half, sondern den gesellschaftlichen Abstieg organisiert hat. Ob das richtig ist oder nicht, ist an dieser Stelle mal egal. Fakt ist: Diese Wahrnehmung gab es, und sie hat gerade bei der arbeitenden Mittelschicht zu Verunsicherung geführt… Wenn die Menschen aber den Glauben an die Unterstützung durch den Sozialstaat verlieren, dann haben wir ein Problem. Deswegen werden wir das Vertrauen mit diesem Gesetz jetzt wiederherstellen. Wir schaffen einen Kulturwandel!“ (J. Peick im Bundestag, 13.10.22)

Denn es geht nicht nur um die Menschen, die auf Hilfe angewiesen sind und denen wir damit das Leben ein Stück leichter machen, sondern es geht um den sozialen Zusammenhalt. Deshalb sage ich: Das Bürgergeld bedeutet Grundsicherheit für unser ganzes Land.“ (H. Heil im Bundestag, 13.10.22)

Ich möchte vorwegstellen, dass man, glaube ich, noch einmal verdeutlichen muss, was das Grundmotiv dieser Gesetzesvorlage ist: dass man zunächst einmal unterstellt, dass alle Arbeitslosen rückkehrwillig in den ersten Arbeitsmarkt sind. Das heißt, eine Vertrauenskultur muss dieses Gesetz als Grundlage wie ein roter Faden durchziehen.“ (Jörg Steinbach im Bundesrat, 14.11.22)

Niemand, der in Not ist, muss sich schämen, in Deutschland Hilfe anzunehmen. Das ist ein soziales Grundrecht.“ (H. Heil im SZ-Interview, 24.11.22)

Die CDU beklagt, „die Ampel will Hartz-IV-Sanktionen quasi abschaffen“ (Whittaker) und „den Menschen die Illusion eines Vollkaskostaates“ verkaufen (Ritter); im Bürgergeld sieht sie „den Weg zum bedingungslosen Grundeinkommen aus Steuermitteln“ (Merz), was „den sozialen Frieden in unserem Land“ gefährdet (Whittaker).

Ich denke hier mal an die Verkäuferin, zum Beispiel in meiner Stammbäckerei in Dresden, die jeden Morgen zuverlässig zur Arbeit geht und natürlich auch erwartet, dass jemand, der vielleicht gerade keine Arbeit hat, dieselbe Bereitschaft und Zuverlässigkeit aufbringt… Sie sagt: Wie ist denn das möglich? Ich muss mir doch die Frage stellen, was dann von meiner Disziplin und von meiner Zuverlässigkeit, mit der ich zur Arbeit gehe, noch übrig bleibt. Will ich da noch arbeiten, ja oder nein? Sie stellen das infrage… Auch die Verkäuferin wird am Ende darauf angewiesen sein, dass sie mehr netto hat, wenn sie arbeitet und zuverlässig zur Arbeit geht, als wenn sie das nicht tut.“ (Markus Reichel im Bundestag, 13.10.22)

Lesetipp: Das Bürgergeld – eine „Jahrhundertreform“ für den staatlich betreuten Pauperismus. In: GegenStandpunkt 2-23, erhältlich im Buchhandel und beim Gegenstandpunkt-Verlag, abrufbar auf: Das Bürgergeld | GegenStandpunkt